22.

Als Simon an diesem Nachmittag im Columbia Theater in Berlin ankommt, ist er fürchterlich genervt. Wegen privater Termine hatte er die Abfahrt des Busses nicht einhalten und in Windeseile einen Flug nach Berlin buchen müssen. Und dann hatte der Termin auch noch so lange gedauert, dass er fast auch den noch verpasst hatte. Stress ab dem Augen aufschlagen am Morgen – solche Tage konnte er ja leiden wie Fußpilz!
Und dann war da noch dieser Anruf am späten Vormittag gewesen. Von dem Reporter, den er vor Jahren einmal bei einem Interview mit seiner Coverband kennengelernt hatte, und der nun plötzlich ganz viele Frage über Simons neue Musikerkollegin Marlena und ihre Vergangenheit gestellt hatte – die er allesamt nicht hatte beantworten können.
Von einem Zeitungsartikel hatte er die ganze Zeit gefaselt. Von einer Gerichtsverhandlung. Und von einer Trauma-Therapie, von der Simon an diesem Morgen zum ersten Mal gehört hatte.
„Ich glaube, sie kommt klar – auch wenn das natürlich eine sehr schwierige Zeit für sie ist“, hatte er vage vor sich hingestammelt. Und direkt nach dem Auflegen und mit einem Blick in die heutige Ausgabe der Blitz-Zeitung gemerkt, dass er besser einfach komplett die Klappe gehalten hätte.
Er muss unbedingt mit Marlena reden, nimmt er sich vor, als er Tilman an der Theke des Columbia Theaters begegnet.
„Da biste ja endlich“, begrüßt dieser ihn, während er Merchandise-Kisten ausräumt und die Fanartikel auf einem Tisch ausbreitet, der später von einem der Roadies betreut werden wird. Der Stress steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Wir haben deinen Keyboard-Kram schon mal auf die Bühne gestellt, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, da irgendwas aufzubauen. Wäre cool, wenn du damit direkt mal anfangen könntest, wir machen gleich ‘nen schnellen Soundcheck – wir sind schon sehr im Verzug wegen dem ganzen Scheiß heute.“ In der nächsten Stunde ist unheimlich viel zu tun. Instrumente müssen aufgebaut und verkabelt werden, Abläufe werden durchgesprochen, die nach und nach eintreffenden Helfer gebrieft. Erst, als der Soundcheck gegen 18 Uhr abgeschlossen ist und die Musiker sich hinter die Bühne verziehen, findet Simon die Zeit, Marlena zu suchen. Er ist besorgt, aber auch ein wenig verärgert, denn der Zeitungsartikel in der „Blitz“ hat ihn so kalt erwischt wie jeden anderen Menschen außerhalb der Band auch.
Er findet die Sängerin in der Catering-Küche, wo sie sich gerade einen Tee aufgießt und gedankenverloren auf der Setliste rumkritzelt. Er setzt sich neben sie.
„Wie geht’s dir?“ Schon, als Marlena aufblickt, wird Simon klar, dass sie nicht zum Quatschen aufgelegt ist.
„Wie soll’s mir gehen?“, fragt sie. In ihrer Stimme schwingt der gleiche Stress mit, den er vorhin schon bei Tilman gesehen hatte. Er zuckt die Achseln.
„Naja, ich hab heute morgen Zeitung gelesen. Könnte mir vorstellen, dass du schon bessere Tage erlebt hast.“ Sie nickt, weicht seinem Blick aus.
„Das hast du ganz richtig geschlussfolgert. Was für ne blöde Frage also.“
Simon fixiert sie, bevor er antwortet. Sehr darauf bedacht, seinen Ärger nicht durchblicken zu lassen.
„Entschuldige bitte, dass ich mich erkundige, wie es meiner Musiker-Kollegin geht, nachdem sie für die Kölner Presse zum neuen Objekt der Sensations-Freaks geworden ist.“
Er atmet durch, um den vorwurfsvollen Unterton loszuwerden.
„Kann man irgendwas für dich tun?“
Marlena lacht freudlos auf, sieht ihn nicht an.
„Ich wüsste nicht, was. Ist jetzt ja nicht gerade so, als würde dieser Dreckstext durch Hypnose wieder im Papierkorb des Verfassers verschwinden oder so.“
In Simon reißt der Geduldsfaden. „Nein, das tut er wohl nicht, Marlena. Vermutlich wird morgen sogar der nächste Artikel in irgendeiner Zeitung erscheinen, was man vielleicht hätte verhindern können, wenn ihr mich in irgendeiner Form auf die Möglichkeit, dass mich ein Reporter anruft, um mich auszufragen, vorbereitet hättet.“
Als Simon an ihrem mit einem Mal furchtbar blassen Gesicht bemerkt, wie hart seine Worte rübergekommen sind, ist es zu spät. Seine Wut ist nicht mehr aufzuhalten.
„Was hast du gesagt?“, fragt sie mit brüchiger Stimme.
„Was hätte ich denn sagen sollen? Verdammt, ich hatte keine Ahnung von dieser ganzen Geschichte, bis dieser Typ mich über die Umstände aufgeklärt hat. Mir blieb nicht viel anderes übrig, als einen von ‚Sie kommt schon klar, und wir stehen natürlich alle hinter ihr‘ zu faseln – dafür habt ihr ja gesorgt!“
Mit großen Augen starrt Marlena ihren Keyboarder an. Ihre Stimme zittert, als sie antwortet. „Du hast denen ein Statement gegeben? Sag mal, hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Was glaubst du eigentlich, wer du bist, dir rauszunehmen, für unsere Band irgendwelche Presseansagen zu machen?“ Ihre Stimme ist zu einem wütenden Brüllen angeschwollen.
Simon schüttelt den Kopf, er weiß einfach nicht, wohin mit seiner Wut auf sie und auf sich selbst.
„Keiner von euch hat den Arsch in der Hose gehabt, mir mal zu erzählen, was hier im Hintergrund eigentlich alles vor sich hin brodelt. Diese ganze Nummer wäre völlig unproblematisch gewesen, wenn wir vor der Tour mal gemeinsam über eine Medienstrategie für den Fall der Fälle gesprochen hätten; oder meinetwegen: Wenn IHR über eine Medienstrategie gesprochen und sie mir danach mitgeteilt hättet. Aber nein – du hast dich dazu entschieden, mich im Dunkeln zu lassen. Sorry, aber diese Situation hast du dir selbst eingebrockt!“
Marlena sieht rot. „DU maßt dir an, mir zu sagen, wie ich mich hätte verhalten sollen? Du hast keine Ahnung von meinem Leben, du hast keine Ahnung wie es mir geht, und diese Reaktion zeigt mir mal wieder überdeutlich, wie froh ich darüber bin, dass das so ist.“ Stefan und einer der beiden Roadies kommen in die Küche geeilt, dicht gefolgt von Tilman, der verwirrt von einem zum anderen schaut, um zu verstehen, was hier in den vergangenen Minuten passiert ist.
„Hast du denn Ahnung von meinem Leben, Marlena? Mein Gott, du tust so, als wäre ich das personifizierte Böse, als hätte ich in einem vorherigen Leben irgendwelche unverzeihlichen Staatsverbrechen begangen! Dabei hast du keinen Schimmer davon, wie meine letzten Jahre verlaufen sind! Du hast keine Ahnung, wie ich dahin gekommen bin, wo ich heute bin. Du hast dein Urteil über mich gefällt, ohne jemals irgendeine Frage zu stellen!“
„Hey, es ist gut jetzt…“, versucht sich Stefan einzuschalten, doch es ist, als würde er von der Szenerie abprallen wie von einer gläsernen Wand. Weder Marlena noch Simon nehmen Notiz von ihm. Mit weit aufgerissenen Augen starrt Marlena Simon hasserfüllt an. „Was hätte ich denn für Fragen stellen sollen, Simon? Was zur Hölle soll sich denn zwischen uns geändert haben? Du bist immer noch genau das gleiche gefühlskalte Arschloch wie damals!“
„Marlena…“ Tilman macht einen Schritt auf die Sängerin zu.
„Ach ja?“ Simon wird laut. „Mädchen, wenn du das denkst, dann hattest du noch nie mit nem gefühlskalten Arschloch zu tun. Wenn ich DAS wäre, hätte ich dir letzte Woche in der Bahn nämlich nicht den Arsch gerettet.“
„Verpiss dich!“, brüllt Marlena unvermittelt, ihre Stimme kippt, wird schrill und heiser, bis kaum noch Töne aus ihrem Mund kommen. „Verschwinde aus meinem Leben und komm nie wieder!“ Mit geballten Fäusten macht sie einen Schritt auf Simon zu, doch Tilman stellt sich ihr in den Weg.
„MARLENA!“
„Lass mich, verdammte Scheiße“, faucht sie, als er sie in seinen Arm ziehen will. Reißt sich los, stürmt an der kleinen Gruppe vorbei, raus ins Freie.
Fassungslos starren Tilman und Stefan ihr hinterher, dann richten sich alle Augen auf Simon. Unverständnis, und eine unglaublich laute, wütende Frage, die er niemals würde beantworten können, hängt in der Luft. Was zum Teufel hast du dir dabei nur gedacht?