Für eine gefühlte Ewigkeit bleibt es still im Proberaum, nachdem Marlena ihre Erklärung beendet hat. Noch immer ist der Schock; das stille Echo ihrer Wut, der Knall der Proberaumtür im Raum
spürbar. Wie ein graues Tuch hängt all das über dem Bandkeller, schwer, einschüchternd, alles erstickend, was in den Köpfen seiner Besucher fieberhaft an die Oberfläche zu gelangen
versucht.
Tilman rührt sich zuerst. Wortlos zieht er die Augenbrauen hoch, lehnt sich zurück, winkelt ein Bein an und stemmt den Fuß gegen die Tischplatte. Noch bevor er zu sprechen beginnt, weiß Marlena,
dass sie ihre Hoffnungen auf Verständnis begraben kann.
„Ich darf das kurz zusammenfassen. Du hast also gerade den einzigen, ernsthaften Anwärter auf die Stelle als Keyboarder in unserer Band zwei Wochen vor dem nächsten Gig aus unserem Proberaum
geschmissen, weil er vor sechs fucking Jahren ein unzuverlässiger Musiker gewesen ist, mit dem du nicht zusammenarbeiten konntest?“
Seine Stimme war immer lauter geworden. Ein trockenes Auflachen entfährt ihm, sein Blick schwankt zwischen erstaunt und wütend. „Bitte sag mir, dass das nicht dein Ernst ist, Marlena!“
Frank setzt noch einen drauf. „Kinderkacke ist das. Nichts weiter!“ Er spuckt die Worte förmlich aus. Steht auf, greift nach seinem Mantel. „Ich geh auch, Leute. Findet raus, was ihr wollt, und
dann ruft mich an. Mir ist das hier zu blöd!“
Mit weit aufgerissenen Augen sieht Marlena ihm hinterher, als er zur Tür geht. Der Schock steht ihr ins Gesicht geschrieben, denn sein Abgang verdeutlicht den Ernst der Lage auf geradezu
dramatische Art und Weise.
„Frank…“ Doch er hebt nur die Hände. „Nicht jetzt! Ich muss das erst mal verdauen!“
Zum zweiten Mal binnen weniger Minuten fällt die Tür ins Schloss. Marlena springt auf und geht ein paar Schritte durch den Raum. Panik ergreift sie, sie fühlt sich wie eine eingesperrte Raubkatze
kurz vorm Betäubungsschuss.
„Hallo, das müsst ihr doch verstehen, Leute! Der Typ hat meine Arbeit mit Füßen getreten, mehrmals, und dann hat er auch noch meine Musik geklaut! GEKLAUT! Was gibt’s da weiter zu
rechtfertigen?“
„Was heißt denn überhaupt geklaut?“, schaltet sich Lukas ein, sehr bedacht darauf, seine Stimme einfühlsam klingen zu lassen. „Es ist ja nicht so als hätte er ein Solo-Album mit deinen Liedern
rausgebracht und sie als seine ausgegeben. Hat er dir mal erklärt, warum er die Nummer auf seinem Konzert gespielt hat?“
Marlena winkt verärgert ab. „Das spielt doch überhaupt keine Rolle, so was macht man einfach nicht! Das ist ’n No Go unter Musikern!“
Tobi versucht, einzulenken. „Ja, stimmt, das is ne Scheiß-Aktion. Aber sie ist sechs Jahre her, Marlena!“ Resigniert schüttelt er den Kopf. „Hättest du das nicht vielleicht wenigstens kurz in
Betracht ziehen können, bevor du ihn so feindselig in die Flucht schlägst? Menschen können sich ändern!“
Da platzt ihr der Kragen. „Bitte was? Du erwartest allen Ernstes, dass ich mir fünf Jahre lang den Arsch abarbeite, nur damit jetzt so’n Simon um die Ecke kommt und sagt ‚Toll, dass du unseren
Traum doch noch verwirklicht hast. Was dagegen, wenn ich jetzt wieder einsteige?‘ Das kann doch bitte nicht dein Ernst sein!“ „Verdammt, was für Alternativen haben wir denn, Marlena? Es ist jetzt
ja wohl nicht so, als könnten wir aus zehn Top-Bewerbern auswählen!“
Das Argument entlarvt Tilmans Panik, doch alles, was Marlena hören kann, ist der wütende Ton seiner Stimme. Und die ist ganz schön laut geworden.
„DU bist doch derjenige, der anfangs immer gesagt hat, wir sollen jetzt bloß nicht anfangen, unter unserem Niveau zu suchen!“ Auch ihre Stimme überschlägt sich jetzt fast.
„ER IST ABER NICHT UNTER UNSEREM NIVEAU, Marlena, er ist sogar besser als wir alle zusammen! Versuch doch zumindest mal, das objektiv zu betrachten! Dein Hirn ist von deinen Emotionen total
vernebelt, weil der Typ dich verletzt hat. Das ist auch okay, aber das kann doch nicht ernsthaft das einzige Entscheidungskriterium sein!“ „LEUTE“, schaltet sich Lukas energisch ein. Wie so oft
nimmt er die Vermittlerrolle ein. „Bitte hört auf, euch anzubrüllen, so kommen wir doch keinen Schritt weiter.“
„Wie bitte soll ich das denn objektiv sehen, wenn ich ‘ne Vergangenheit mit dem Typ hab, die es mir unmöglich macht, mich musikalisch bei ihm fallenzulassen, Tilman?“, brüllt Marlena. Auf Lukas
geht sie gar nicht erst ein.
„Ganz einfach. Sprich dich mit ihm aus, und dann geben wir ihm ‘ne Chance. So jemanden finden wir nie wieder.“ Es klingt trotzig. Tilman weiß selbst, dass die Forderung nicht ganz fair ist.
Verzweifelte Leere umnebelt Marlenas Kopf. Sie ist entsetzt, dass ihre Mitmusiker so wenig Verständnis zeigen. Die Argumente sind ihr längst ausgegangen, das einzige, was ihren Kopf ausfüllt, ist
das stechende Gefühl, allein zu sein. Tilman blickt zu ihr auf und mustert seine Sängerin mit gerunzelter Stirn. Er kennt sie gut genug, um zu sehen, wie nah ihr das Gespräch geht. Dass nur die
taffe Fassade, die sie in solchen Situationen gerne zur Schau stellt, verhindert, dass sie in Tränen ausbricht. Er steht auf und greift versöhnlich nach ihren Schultern.
„Mann Marlena, ich hab‘ dir in den letzten Wochen echt bei vielen potenziell-ausbaufähigen Keyboardern den Rücken freigehalten. Aber langsam ist es echt mal wieder an der Zeit, dass wir anfangen,
das Wohl der Band ins Auge zu fassen.“
Tobi schaut vorsichtig von der Sitzbank zu ihr hoch. „Da muss ich Tilman Recht geben, Marlena. Ich versteh dich, ganz ehrlich. Aber wir haben keine Zeit mehr für so was.“ Energisch macht sie sich
los. Starrt Tilman fassungslos an. „Warte, jetzt bin ICH die Einzige, die in den vergangenen Wochen die Absagen verteilt hat? Wen von diesen Nulpen hättet ihr denn bitteschön nehmen wollen?“ „Ach
kommt Leute, das bringt nichts.“ Wieder spürt Lukas ganz genau, dass die Situation zu eskalieren droht – und das gilt es, um jeden Preis zu verhindern. Resigniert seufzt er und winkt ab. „Simon
wäre ‘n guter Match gewesen, ja, aber man kann nur konstruktiv zusammenarbeiten, wenn alle dazu gewillt sind und das Klima stimmt. Das ist hier ja wohl entschieden nicht der Fall, also müssen wir
jetzt damit leben.“
Die tiefe Enttäuschung in Lukas‘ Stimme gibt Marlena den Rest.
„Ja richtig. Sonst habt ihr nämlich keine Sängerin mehr“, versetzt sie eine Spur zu laut.
Und weiß sofort, dass sie verloren hat.
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