13.

Eigentlich sollte es ein entspannender Abend werden. Einer dieser Abende, wo du dich einfach ins Theater setzt, dein Hirn für zwei Stunden ausschaltest und dich von der Musik und den Tänzern auf der Bühne benebeln lässt, bis die Lichter ausgehen - und du, beschwipst vom Backstage-Wein und zu müde, um auch nur darüber nachdenken zu können, ob es dir gut geht, zuhause ins Bett fallen kannst.
Aber Lindas Worte lassen Marlena nicht los. Es ist bemerkenswert, wie gut ihre beste Freundin den Nagel ihrer Bandsituation auf den Kopf getroffen hat - ohne auch nur den blassesten Schimmer davon zu haben. Auch, als die beiden Freundinnen nach der Vorstellung mit einigen von Andrés Ensemble-Kollegen im Stage Club des Musical Domes sitzen, schweifen ihre Gedanken immer wieder ab.
Simon hatte sich wie der wahre Freund verhalten, den sie lange vermisst hatte, als er ihr in der Bahn zu Hilfe gekommen war. Sie kann es nicht leugnen – bei aller Abscheu, die sie für ihn empfindet, bei all der Wut und Bitterkeit über ihre gemeinsame Vergangenheit: Als sie Hilfe gebraucht hatte, war er da gewesen. Es hatte sich noch nicht einmal merkwürdig angefühlt – auch für ihn nicht, das hatte sie gespürt. Es war fast wie früher gewesen, in den vielen Stunden, die die beiden zusammen auf ihrer Couch verbracht hatten, mit nichts als Melodien, Textfragmenten und Ideen im Kopf, wie sie das, was sie, Marlena, bewegte, am besten in Musik verwandeln können. Damals war Simon einer der Menschen gewesen, den sie am tiefsten in ihre Seele hatte blicken lassen. Und niemals, nicht ein einziges Mal, hatte sie auch nur ansatzweise das Gefühl gehabt, ein Risiko damit einzugehen.
„Trinkste noch einen?“, fragt André, küsst seine Freundin Linda auf den Haarschopf und greift nach Marlenas Glas. Sie nickt. Als er mit einem weiteren Weißwein wiederkommt, sieht er Marlena an – das erste Mal an diesem Abend, soweit sie sich erinnern kann. „Hab gehört, ihr sucht ‘nen neuen Keyboarder?“
Marlena nickt. „Ist nicht so leicht, einen Tastengott zu ersetzen“, versucht sie zu scherzen. André nickt. „Kann’s mir vorstellen. Keyboarder sind in der Regel entweder in festen, fett bezahlten Engagements oder so mies, dass du sie nur auf drittklassigen Hochzeiten an die Orgel setzen kannst.“
So hart hätte Marlena das nicht ausgedrückt, doch auf seine verquere, eingebildete Art und Weise bringt er die Marktsituation in der Musikbranche schon ganz gut auf den Punkt.
„Heißt trotzdem nicht, dass man jeden nehmen muss, der ‚Für Elise‘ runterleiern kann.“ André lacht. Makellos gebleachte Zähne kommen zum Vorschein – ein Schönheitsdetail, welches ihn, falls das möglich ist, noch einen Tick unsympathischer macht. „Das mag sein, Schätzchen. Aber glaub mir, für so manche deutsche Popband wäre das durchaus ein Anfang.“ Linda lacht, Marlena nicht.
Missmutig trinkt sie einen Schluck von ihrem Weißwein. Was ist nur aus den guten alten Zeiten geworden, wo man Musik zusammen gemacht hat, weil es sich GUT anfühlt? Weil man Menschen gefunden hat, zu denen man so viel Vertrauen hat, dass man seiner Kreativität freien Lauf lassen kann? Mit denen die Ideen nur so sprießen; bei denen alles erlaubt ist, was die Musik hergibt - das totale Fallenlassen auf emotionaler Ebene?
Sie seufzt. Heute geht es ums Geschäft. So schmerzhaft und ärgerlich das auch ist, wenn nicht bald eine Lösung für dieses Keyboarder-Problem am Horizont auftaucht, wird es in einer mittelschweren Katastrophe für ‚Freifahrtschein’ enden.
Natürlich könnten sie erneut versuchen, Ruben zu beknien, erst nach der Tournee bei seiner Metaltruppe einzusteigen. Und natürlich könnten sie über Franks Kontakte auch die gesamte Tour mit zugekauften Ersatz-Musikern,so genannten Subs, spielen. Zumindest, wenn man mal außen vor lässt, dass diese Tournee aller Voraussicht nach wie bei jeder Newcomer-Band sowieso schon ein Minus-Geschäft werden wird. Und dass dieses nicht vorhandene Geld, das sie aufbringen müssten, eigentlich anderswo besser angelegt wäre. In ihrem noch immer unfertigen Album zum Beispiel. In einer neuen Homepage oder einem Musikvideo.
Die Musical-Crew lacht lauthals über einen Witz, die nächste Runde Getränke wird an den Tisch gebracht. Marlena will nach Hause. Die alles entscheidende Frage in ihrem Kopf wird von Minute zu Minute lauter: Was wird es mit der Freundschaft machen, die sie mit ihren Mitmusikern verbindet, wenn sie, und nur sie allein, der Grund dafür ist, dass ‚Freifahrtschein’ diese, gerade für eine junge Karriere sehr gefährlichen Hürden – Verschuldung, Konzertabsagen, Imageverlust – in Kauf nehmen müssen?
Marlena würde nicht ertragen, ihre Freunde zu verlieren. Sie würde es nicht ertragen, diese Band zu verlieren.
Linda greift nach ihrer Hand. “Du wirkst abwesend, Liebes. Wie war eigentlich euer letztes Casting… seid ihr schon einen Schritt weiter?”
Marlena winkt ab. „Wir sind noch unentschlossen“, sagt sie, wohl wissend, dass das mindestens eine 170-Grad-Wendung zu dem ist, was sie gestern noch geantwortet hätte.
Linda legt einen Arm um ihre Freundin. „Du bist halt Perfektionistin, das wissen wir ja. Aber manchmal, meine Gute, täte es dir ganz gut, auch mal ein paar Gratis-Chancen zu verteilen. Das gäbe den Menschen zumindest gelegentlich die Möglichkeit, dich davon zu überzeugen, dass sie nicht alle schlecht sind.“
Marlena lächelt traurig. Vielleicht sollte sie das tatsächlich.