18.

„So, jetzt geht’s also zum ersten Mal auf Deutschlandtour für euch. Wie war euer erstes Wochenende on the road denn?“, fragt Markus Schneider ein paar Tage später im Kleinbus der ‚Freifahrtschein’e. Das nächste Tourwochenende steht an, gerade ist die Band auf dem Weg nach Münster zur Sputnik-Halle. Dass ein Journalist bei ihnen im Bus mitfahren würde, um ein Porträt über sie zu schreiben, scheint Frank allerdings offenbar als nicht wichtig genug erachtet zu haben, um es mal zu erwähnen. Entsprechend gereizt ist die Stimmung unter den Bandmitgliedern.
„Toll war’s“, sagt Lukas so gut gelaunt wie möglich. „Wir waren total nervös, denn es kommt ja nun nicht jeden Tag vor, dass du in Hallen wie dem FZW oder bald hier in Köln in der Live Music Hall spielen kannst.

Aber ich muss sagen: Die Fans letztes Wochenende in Dortmund und Hannover haben’s uns wirklich leichtgemacht. Die Stimmung bei den beiden Konzerten war echt geil.“
Markus nickt und sieht aufmerksam in die Runde. Sein Diktiergerät in seinem Schoß blinkt monoton vor sich hin. „Simon, du bist ganz neu dabei – erzähl mal, wie kann man es denn mit deinen Kollegen hier aushalten?“
Simon schluckt. Er hatte gehofft, dass dieser Kelch vorerst an ihm vorbeigehen würde. Zögerlich lächelt er. „Super kann man’s mit denen aushalten! War ein cooles erstes Wochenende – es macht Spaß, endlich wieder live auf der Bühne zu stehen.“
„Okay!“ Und in die Runde: „Ruben, euer bisheriger Keyboarder, ist ja sehr plötzlich und vor allem klammheimlich ausgetauscht worden. Habt ihr euch zerstritten?“
Der Journalist schaut Marlena forschend an, doch bevor sie antworten kann, schaltet sich erneut Lukas ein. „Keineswegs“, sagt er einen Tick zu schnell und zu laut. „Ruben musste uns leider aus beruflichen Gründen Anfang Dezember verlassen, was uns natürlich erst mal vor ein ganz schönes Problem gestellt hat.“
Er nickt Frank zu, versucht, wohlwollend auszusehen. „Doch unser Manager hier hat’s rausgerissen: Nach einigen weniger erfolgreichen Castings brachte er uns Simon in den Proberaum, und da hat die Chemie einfach von Anfang an gestimmt.“
Markus sieht ihn nachdenklich an, wendet sich wieder Marlena zu. Hakt noch einmal nach. „Ist bestimmt schwer, wenn man nach fünf Jahren Musik plötzlich Abschied von einem Mitstreiter nehmen muss, der von Anfang an dabei war. Kein böses Blut? Wirklich gar nicht?“ Marlena schüttelt den Kopf, es wirkt müde. „Wir wünschen Ruben alles Gute für seine Zukunft. Das Angebot, dass er bekommen hat, hatte er glaub ich in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet, und natürlich freuen wir uns für ihn, dass er seine Träume jetzt anderswo verwirklichen kann.“ Selbst in ihren eigenen Ohren klingt es auswendig gelernt. Natürlich merkt das auch Markus. „Fast zu schön um wahr zu sein“, sagt er, nicht ohne eine leise Spur Ironie.
„Dann jetzt also Simon.“ Er wendet sich dem Keyboarder zu. „Du sagst, du freust dich, endlich wieder live auf der Bühne zu stehen. Elf Jahre lang hast du mit ‚Tommy and Gina’ fast jeden Live-Club der Republik irgendwann mal von innen gesehen. Warum hast du deinen Job da eigentlich hingeschmissen?“
Dieser Typ hat seine Hausaufgaben wirklich gemacht. Kurz zögert Simon, weil er angesichts dieses Seitenhiebs nicht so recht weiß, wie er reagieren soll. „Irgendwann kommt wohl für jeden die Zeit, mal was Eigenes machen zu wollen“, leiert er seine Standardantwort herunter. So unwirsch, als glaube er sie selbst nicht richtig. Markus sieht ihn zweifelnd an. „Aber nervt es nach solch einem Erfolg nicht, jetzt wieder komplett von vorne anfangen zu müssen?“
Simon grinst unsicher. „Ach weißt du, das eine ist mit dem anderen ja nicht zu vergleichen“, sagt er betont kumpelhaft. „Ja, Covermucke zu spielen ist toll, aber worauf ich mich jetzt sehr freue ist, selber mal wieder an Songs arbeiten, mich einbringen zu können. Es ist was ganz anderes, ob du in Stein gemeißeltes Songmaterial da liegen hast, an das du dich stur halten musst, oder ob du Raum hast, auch mal ein bisschen improvisieren zu können.“ Markus runzelt die Stirn. „Naja, aber wenn ich das richtig verstanden habe, dann bist du ja erst mal für die Tour hier fürs Keyboard verpflichtet“, stellt er ketzerisch fest. „Lassen deine neuen Kollegen denn da überhaupt zu, dass du in ihren Songs herumdokterst?“
Simons Lächeln gefriert. Diesmal ist es Tobi, der die Situation rettet. Er klopft Simon auf die Schulter und lacht demonstrativ auf. „Bei guter Livemusik ist es IMMER wichtig, dass sich die einzelnen Musiker auf der Bühne in das hereinfühlen können, was sie da tun. Klar darf und soll Simon sich einbringen!“ Er schaut Marlena an. „Erst am Montag haben Lukas und Marlena mit ihm lange im Proberaum gesessen, um an einem Stück zu arbeiten, das schon länger bei uns in der Schublade liegt, aber noch nie live zum Einsatz gekommen ist. Das wird sozusagen ‘ne Deutschlandpremiere, mein Lieber – und das hätte ohne Simon in dieser Form überhaupt nicht geklappt!“
Marlena verfolgt den Gesprächsverlauf wie aus weiter Ferne. Gute Antwort, denkt sie. Und: Gut, dass diese Frage nicht mir gegolten hat. Ich hätte garantiert etwas anderes gesagt. Auch Frank ihr gegenüber scheint langsam zu merken, dass seine Idee, Markus völlig unangekündigt mit in den Kleinbus zu setzen und auf Simon rumreiten zu lassen nicht so clever gewesen war, wie er anfangs gedacht hatte. Er sitzt bedröppelt am Fenster und scheint bei jeder Frage einen Tick kleiner zu werden.
Innerlich schüttelt Marlena verständnislos den Kopf. Und das von jemandem, der durch die Zeit mit ‚Knoxville‘ und ‚Be a Star‘ eigentlich all das schon mal durchgemacht haben sollte… „Ist es nicht sowieso total schwer, in so kurzer Zeit einen neuen Mitmusiker einzuspielen? Da muss doch fast schon das Programm drunter leiden“, behauptet er.
Mit gekünsteltem Lächeln schaut Tobi ihn an. „Wir nehmen das hier alle ziemlich ernst, Markus“, sagt er eisig. „Wir haben in den vergangenen Wochen hart gearbeitet, und wir sind auch alle keine Anfänger mehr.“
Ein winziges Lächeln huscht über Markus‘ Gesicht, es wirkt amüsiert. „Klar, ihr seid ja Profis.“ Sein Tonfall wechselt, er wirkt jetzt fast plauderhaft.
„Aber sagt mal: Jetzt hört man aus der Coverbranche ja, dass die Zusammenarbeit mit Simon auch nicht IMMER nur leicht gewesen ist. Ist das nicht auch ein gewisses Risiko?“ Simon wechselt hektisch einen Blick mit Marlena, doch sie weiß nicht, wie sie ihm helfen soll. Sie kann nur raten, welche Geschichten der Journalist gehört haben will.
Wenn du jetzt ‘ne Leiche im Keller hast, von der wir noch nichts wissen, dann hat er uns jetzt, denkt sie resigniert.