Ein tiefes Seufzen entfährt Marlena beim Klang ihres Lieblingslieds – und es ist kein glückliches Seufzen. ‚Sintflut‘ ist der mit Abstand rockigste Song in ihrem Set – groß und gewaltig arrangiert, unheimlich trotzig und voller Wut. Das Herzstück dabei ist ein kraftvolles Synthesizer-Solo, in das der Autor damals seine komplette, hyperaktive Verzweiflung hineingeschrieben hat. Und jedes Mal, wenn Marlena auf der Bühne steht, sieht sie ihn wieder vor sich: Ruben, im Juli vergangenen Jahres, wie er mit blutiger Jeans und tottraurigen Augen neben ihr auf dem Beifahrersitz saß. Marlena hatte ihn ins Krankenhaus fahren müssen, weil er aus Wut über seine Ex-Freundin seinen Fernseher kaputtgetreten hatte – was mit großer Wahrscheinlichkeit die einzige Rockstar-Geschichte bleiben wird, die ihr Ex-Keyboarder seinen Enkelkindern jemals würde erzählen können. Zwei Stunden hatten sie mit zwei Kühlakkus in der Notaufnahme gesessen, und schon da war von dem unberechenbaren Typ nur noch ein geknicktes, übernächtigtes Häufchen Elend mit gebrochenem Herzen übrig gewesen. Sie hatte die Nacht auf seiner Couch verbracht; ihm zugehört, den Kopf gewaschen. Zwei Tage später war seine Trennung von Annalena für immer in Noten gebannt gewesen.
Marlena blickt konzentriert zu dem jungen Mann herüber, der jetzt gerade in der Ecke steht, wo bis vor ein paar Wochen noch Rubens Keyboards aufgereiht gewesen waren. Man kann dem schlaksigen Blondschopf unmöglich vorwerfen, dass er nichts von zertrümmerter Wohnzimmereinrichtung und Tränen in der Notaufnahme weiß. Und doch hatte er Marlena mit seinem Spiel verloren gehabt, noch bevor die erste Strophe zu Ende gespielt war.
Die Sängerin lehnt sich auf ihrem Barhocker zurück gegen die kalte Proberaumwand und schließt die Augen, um alles um sich herum auszublenden. Hör zu, ermahnt sie sich. Gib dem Typ ‘ne Chance! Doch es hilft nichts. Der Keyboarder – Daniel – ist wieder im Refrain angekommen. Jeder Tastenanschlag ist akkurat. Sauber und brillant durchflutet die Melodie den verwinkelten Proberaum. Marlena schließt resigniert die Augen. Jeder einzelne Ton klingt eingeübt und gefühlsleer. Einfach langweilig.
Als Daniel zu Ende gespielt hat, sieht er Beifall heischend zu der schlanken Sängerin herüber. Sein Blick ist hoffnungsvoll, er wirkt selbstzufrieden. „Sorry, Daniel, aber du passt einfach nicht zu uns“, sagt Marlena, selbst für ihr eigenes Empfinden mit reichlich wenig Bedauern in der Stimme. Sie zuckt die Achseln, streicht sich mit der linken Hand eine lästige, dunkelbraune Locke aus dem Gesicht. „Du spielst gut, man hört dir jedes einzelne Jahr deiner klassischen Ausbildung deutlich an, genauso, wie man dir anhört, dass du mindestens zehn Stunden zuhause an deinem Steinway-Flügel gesessen hast, bis alles absolut perfekt in deinen Ohren klang.“ Daniel lächelt zaghaft. Frank Baltes, der schräg hinter dem Keyboard auf einem weiteren Barhocker sitzt, wirft Marlena einen warnenden Blick zu. Reiß dich zusammen, lautet die Botschaft des Managers. Marlena versteht ihn. Daniel Schumann ist der neunte Keyboarder, der diesen Proberaum ohne Engagement bei ‚Freifahrtschein’ verlassen wird. Aber die Band ist Marlenas Baby. Sie würde einen Teufel tun und ihre Ideale verraten!
Mit kurzem Zögern wendet sie sich wieder Daniel zu. Etwas versöhnlicher lächelt sie ihn an. „Aber was wir brauchen, ist jemand, der auch ein Stück von sich selbst in unsere Stücke einfließen lässt. Und das höre ich bei dir einfach nicht. Tut mir ehrlich leid, aber damit würde keine Seite langfristig glücklich werden.“ Daniel nickt ratlos. Er versteht die Welt nicht mehr. Bevor Marlena weitersprechen kann, greift Frank ein. Er ist von seinem Hocker heruntergerutscht und baut sich in seinem leicht in die Jahre gekommenen Freizeitjackett neben dem Keyboard auf, legt dem Musiker eine Hand auf die Schulter. „Was sie eigentlich sagen will ist: Du bist großartig. Jedes Orchester wäre stolz, jemanden wie dich zu haben.“ Seine Stimme überschlägt sich fast im verzweifelten Bestreben, die Situation irgendwie zu retten.
Tilman, der den Dialog bisher lässig an die Wand gelehnt von seinem Schlagzeughocker aus verfolgt hat, kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Als würde Daniel in dieser Situation eine Portion Süßholzraspelei helfen! „Ja, du bist gut. Aber nicht für uns, da muss ich Marlena leider zustimmen.“ Seine Worte sind freundlich, aber bestimmt. Die Diskussion ist beendet. Daniel nickt enttäuscht. „Da kann man dann nichts machen. Trotzdem danke für eure Zeit.“ Er steht auf, greift nach seinen fein säuberlich sortierten Notenblättern und steuert auf die Tür zu. „Hey, Mann! Lass den Kopf nicht hängen. Du findest ganz sicher etwas, was dich ausfüllt“, beeilt sich Frank zu sagen und hechtet dem Keyboarder hinterher, um ihn hinaus zu begleiten.
Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hat, grinst Tilman Marlena über seine Brille hinweg an. „Du findest ganz sicher etwas, was dich ausfüllt!“, äfft er den Manager nach. Dann schlägt er auf seine Oberschenkel, die durch die zerrissene Bluejeans hindurchblitzen, und steht auf, um in den Aufenthaltsraum zu wechseln. „Und auf ein Neues!“ Gitarrist Lukas sieht ihn vorwurfsvoll an. „Was?“, verteidigt sich Tilman. „Ist doch so.“
Marlena verdreht die Augen und beginnt, das Kabel ihres Mikrofons aufzurollen. „Jedes Orchester wäre stolz, jemanden wie dich zu haben…Was soll das denn? Wir suchen ‘nen Keyboarder, kein Mitglied für ‘ne Selbsthilfegruppe.“
„Hey, jetzt sei nicht unfair. Der hatte echt was drauf“, schaltet sich Bassist Tobias ein und beginnt ebenfalls, sein Equipment wegzuräumen. Seine hellblonden, mit Gel gestylten Haare wippen bei jeder Bewegung.
Marlena wirft ihm einen vielsagenden Blick zu. „Ja, technisch vielleicht. Aber kannste dir den auf der Bühne vorstellen, wenn wie auf dem Festival in Potsdam letzten Sommer die Technik versagt und wir zehn Minuten lang ohne Ton improvisieren müssen? Der kriegt doch ‘nen Herzinfarkt!“
Mit zielstrebigen Schritten steuert sie aus dem Proberaum und lässt sich resigniert in die Sitzecke des Aufenthaltsraums fallen, mitten in das Chaos aus leeren Bierflaschen auf dem Tisch, halbvollen Merchandise-Kisten, uralten Postern ihrer Lieblingsbands und losen Ersatzkabeln. Die verschlissene Eckbank, die lange Holztheke, der alte Küchentisch und der Kühlschrank, der nur sporadisch funktioniert – schon oft hatten Marlena und ihre Mitmusiker diesen Vorraum als Zuflucht, als Kreativschmiede, als Ort ausgelassener Bandpartys genutzt. Heute jedoch scheint ein Schleier der Frustration über den paar Quadratmetern zu hängen.
Nach und nach folgen die anderen ‚Freifahrtschein’e ihrer Sängerin in den Aufenthaltsraum. Tilman lässt sich auf einen der alten Klappstühle fallen und legt die Füße auf den Tisch, Tobi steuert den Kühlschrank an. Nur Lukas bleibt an der Verbindungstür stehen und blickt resigniert zu Boden. Sein lässiges Outfit aus einem verwaschenen Bandshirt und locker sitzenden Jeans kann seine Anspannung nicht verbergen, als er sagt: „Trotzdem. Du kannst die Leute nicht dafür verantwortlich machen, dass sie nicht Ruben sind. Das wird nie jemand sein.“
Der Resonanzraum der Worte ist riesig. Tobias öffnet sich ein Bier, reicht Marlena auch eins, setzt sich zu ihr auf die Eckbank. Stille breitet sich in der gemütlichen Sitzecke aus. Alle hängen ihren Gedanken nach. Nach einigen Minuten bricht Marlena das Schweigen und hebt ihre Flasche. „Tja. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an Tony und seine blöde Metalband. Auf dass ihr Typen Spaß mit unserem Keyboarder habt!“
„Mein Gott, Marlena, wir haben’s geschnallt“, schallt es von der Tür her. Frank ist sichtlich verstimmt. „Ruben ist einfach der Geilste und eh nicht zu ersetzen, und du bist verdammt sauer auf ihn, dass er ‚Freifahrtschein’ im Stich gelassen hat, weil er sich seinen beschissenen Traum verwirklichen will. Willst du die Band jetzt auflösen? Ist es das, was du willst?“
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