12.

Am nächsten Morgen wacht Marlena mit einem Gefühl auf, als hätte sie den Kater des Jahrhunderts. Ihr Kopf fühlt sich schwer, ihre Glieder unendlich steif an. Ihr Knöchel puckert und tut weh, als sie auftritt, um sich auf den Weg ins Badezimmer zu machen. Ein Blick in den Spiegel genügt, um ihr zu zeigen, dass ihr Äußeres ihrem Innersten um nichts nachsteht. Sie wendet die Augen ab. Erst mal muss ein Kaffee her.
In der Küche fällt ihr Blick auf das Chaos des vergangenen Abends. Die Tablettenschachtel mit dem Sertralin, ihrem Antidepressivum, liegt halb ausgekippt auf dem Tisch. Taschentücher verteilen sich über den Fußboden, genauso wie ihre Jacke und ihre Schuhe. Marlena wollte nur noch ins Bett, als sie nach zwanzig Minuten Fußweg – immer wieder unterbrochen von Weinkrämpfen und Wutanfällen – endlich zuhause angekommen war. Sie war zwei Haltestellen zu früh ausgestiegen. Ein Blick auf die Arnikasalbe in der Spüle erinnert sie auch wieder daran, warum ihr Knöchel so weh tut: Zwei Mülltonnen hat sie umgetreten. Eine davon ist auf ihren Fuß gefallen.
Fast packt Marlena wieder die Wut, während sie ihre Sachen wegräumt und geistesabwesend die Kaffeemaschine anschmeißt. Was war sie doch für eine blöde Kuh! Der Streit im Proberaum war ja die eine Sache, aber sich wegen so ein paar beschissenen Kleinigkeiten in der Bahn so aus dem Konzept bringen zu lassen? Unglaublich.
Doch noch während sie diesen Gedanken fasst, füllen sich ihre Augen wieder mit Tränen. Bringt ja alles nichts. Raus aus ihrer Haut kann sie schließlich nicht.
Nach dem Kaffee und ihrer kleinen Aufräumaktion geht es ihr immerhin so viel besser, dass es sie an ihren Laptop zieht. Wenn sie nicht musikalisch unterwegs ist, verdient sie als Werbetexterin ihr Geld. Derzeit auf ihrem Schreibtisch in der Warteschleife: Der Entwurf einer Corporate Identity für das Café einer Freundin, welches in der Südstadt kurz vor der Eröffnung steht – und ein Slogan für die neue Bleaching-Behandlung ihres Zahnarztes. Marlena verdreht genervt die Augen. Komplett mit der Musik ihr Geld verdienen zu können, würde sie eindeutig präferieren. Mit der Kaffeetasse in der Hand lässt sie sich an ihrem sonnigen Schreibtisch mit Blick in den Innenhof fallen.
Die Zähne sollen es heute sein, entscheidet sie, denn diese Aufgabe erscheint ihr sehr viel übersichtlicher. Sie greift nach einem weißen Papier und schreibt wahllos Begriffe auf, die ihr zum Thema Bleaching einfallen. „Strahlend weiß“ – „gesund“ – „blitzblank“ – „Zahnhygiene“ – „strahlend we“ … sie stockt. „Zähne“ – „Weiß“ – „glänzend“ – „gesund“… Nichts, was nicht schon Millionen Mal dagewesen wäre. Frustriert blickt sie in den schneebedeckten Innenhof.
Es ist nicht so, als kenne Marlena diese Nachwehen einer Panikattacke nicht. Sie kann sich nicht konzentrieren, ist zerstreut und fahrig, ihre Gedanken schweifen immer wieder ins Leere ab. Und launisch ist sie obendrein.
Das Problem ist: Sie will es nicht akzeptieren. Seit sie vor einem Jahr in diesen Zwischenfall in der Bahn verwickelt wurde, zwängt ihr Körper sie ständig in diese kraftraubende Opferrolle, in der sie überhaupt nicht zuhause ist. Zeit ihres Lebens war es Marlena stets gelungen, die Probleme, die sie bedrückten, aus dem Weg zu räumen; aus eigenen Stücken eine Lösung für sie zu finden. Es entspricht nur ihrem Naturell, dass auch in dieser Situation versuchen zu wollen.
Doch immer, wenn sie glaubt, es ginge ihr nun wieder gut, entstehen Situationen wie gestern. Fast so, als wolle ihr Körper ihr mitteilen, dass sie in ihrem Leben überhaupt nichts zu sagen hat, solange er nicht mitspielt. Was er offenbar nicht vorhat. Marlena steht auf, um sich einen weiteren Kaffee zu holen. An der Spüle hält sie inne. Sie wollen zu viel, Frau Schuster. Gehen Sie nicht so hart mit sich ins Gericht, hört sie ihre Therapeutin sagen.
Ohne weiter mit sich zu hadern stellt Marlena die Tasse in die Spüle, greift nach ihrer Jacke und verlässt die Wohnung.

Die Arbeit muss warten, beschließt sie. Jetzt geht es erst einmal an den Rhein.