20.

Einige Stunden nach dem Konzert in Münster lässt sich Lukas neben seine beste Freundin auf eine unbequeme Holzbank in einer Art Speisesaal fallen. Wieder ist die Band in einer Jugendherberge untergekommen, doch heute ist an gemeinsames Rumalbern nach dem Gig nicht zu denken. Tobi und Tilman sind schon ins Bett gegangen, Simon telefoniert mit seiner Schwester, und Marlena hat sich mit einem Buch in den ungemütlichen Aufenthaltsraum der Herberge zurückgezogen. Nicht, dass sie sich wirklich konzentrieren könnte – auch wenn die Biographie von Bob Dylan noch so gut ist. Der kleine Lese-Ausflug ist mehr als Flucht vor ihren Mitmusikern zu verstehen, denn gerade heute braucht Marlena ganz dringend einen Ort zum Zurückziehen.
„Was ein Abend!“, sagt Lukas leise und lehnt sich gegen Marlenas Schulter. Sie legt ihr Buch weg. „Das kannste laut sagen“, erwidert sie. „Ich glaube, das war das beschissenste Konzert, was ich in meinem ganzen Leben gespielt hab.“
Lukas lacht leise. „Das stimmt nicht!“ Er sieht sie an. „Erinnerst du dich noch an den Gig auf der Karnevalsparty, vor einigen Jahren in Düren?“
Marlena stöhnt. Wie könnte sie das vergessen? ‚Freifahrtschein’ war damals von einem sehr jungen Veranstalter gebucht worden, der sich in den Kopf gesetzt hatte, dieses Jahr erstmals auch ein jüngeres Publikum für die alljährliche Party am 11.11. zu begeistern. Schon im Vorgespräch hatten Lukas und Marlena ihn gewarnt, dass die Band Rockmusik, keine Schlager oder Karnevalsklassiker spielt. „Das ist perfekt“, hatte der Veranstalter allen Bedenken vehement widersprochen. „Für die Karnevalsstimmung haben wir ein Trio aus Köln, das nach euch spielen soll. Aber wir wollen nicht immer nur monothematisch sein, wir wollen auch mal was Neues ausprobieren. Und wir haben auf anderen Veranstaltungen sehr gute Erfahrung mit Nachwuchsbands und Rockmusik gemacht.“
Wider ihres Bauchgefühls hatten die ‚Freifahrtschein’e sich auf den Deal eingelassen. Es kam, wie es kommen musste: Das Karnevalstrio, sauer, weil es nicht mehr den ganzen Abend berechnen konnte, war nur für die frühen Abendstunden buchbar gewesen, weil es danach noch auf einer anderen Veranstaltung spielen wollte. Als die Band nach drei Stunden ‚Hölle Hölle Hölle‘ und ‚Superjeile Zick‘ die Bühne betrat und nicht einen Song zum Besten geben konnte, bei dem die alkoholisierte Masse hätte mitgrölen können, war die Stimmung gekippt. Marlena lacht bei der Erinnerung daran. „Ich bin noch nie so ausgebuht worden!“
Lukas sieht sie von der Seite an. Er wird ernst. „Aber mal Butter bei de Fische: Was war denn heute los?“
Marlena schließt die Augen und schüttelt leicht den Kopf. „Ich weiß es nicht, Lukas“, gibt sie ehrlich zu. „Ich hab‘ mich einfach vom Desinteresse unseres Publikums verunsichern lassen. Ich habe angefangen, alles, was ich tue – jede Bewegung, jeden Spruch, jeden Ton, den ich singe, infrage zu stellen. Und ich hab‘ zu genau hingeschaut.“ Ihr Gesicht verzieht sich bei der Erinnerung an den Auftritt. „Ich habe sie alle gesehen; die gelangweilten Blicke; die Leute, die rausgegangen sind, das Kopfschütteln und das Gähnen, egal, ob es aus Müdigkeit, aus Provokation oder aus Sauerstoffmangel war.“ Sie schüttelt wieder den Kopf, beschämt über sich selbst. „Ich habe mir das alles furchtbar zu Herzen genommen. Völlig unprofessionell.“
Lukas winkt ab. „Ach, mach dir keinen Kopf, das passiert den Besten mal.“
Er gähnt. „Ich würd‘ dich auch gar nicht drauf ansprechen, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass irgendetwas nicht stimmt mit dir.“ Er hält inne. „Ist es Simon?“ fragt er leise.
Marlena lässt ihren Blick aus dem Fenster schweifen. „Nein, Simon war großartig heute Abend“, gibt sie zu. „Ich muss mich unbedingt noch bei ihm bedanken, er hat mir wirklich den Arsch gerettet. Seine Entscheidung, ‚Kaleidoskop-Augen‘ zu spielen, war goldrichtig. Ich hätte mich das nur selbst nie getraut, ich hatte einfach kein Selbstbewusstsein mehr.“
Lukas folgt ihrem Blick. „Was ist es dann?“. fragt er. Marlena zuckt die Achseln. Sie kann Lukas ohnehin nichts vormachen.
„Die Albträume sind wieder schlimmer geworden“, sagt sie. Es dauert einen Moment, bis sie weitersprechen kann. „Es ist, als wären die vergangenen Monate irgendwie verpufft, es fühlt sich wieder an, als sei es gestern gewesen.“
Lukas drückt mitfühlend ihren Arm, sagt nichts. Er weiß, alles, was er in diesem Moment von sich geben kann, sind bedeutungsleere Floskeln. Jetzt hilft nur zuhören. Er legt den Kopf schief, schweigt einen Moment.
„Machst du was dagegen?“, fragt er.
Marlena nickt. „Sie haben mein Sertralin jetzt angehoben“, antwortet sie schlicht.
Lukas weiß, was das bedeutet. Er ist es gewesen, der, im Wechsel mit Linda, die kompletten ersten Wochen nach dem Vorfall bei Marlena auf der Couch geschlafen hat. Er hat sie nachts geweckt, wenn sie im Schlaf geschrien und geweint hatte, und er war es auch, der sie zu einer Therapie überredet hatte – auch wenn er sich fast ein halbes Jahr den Mund hatte fusselig reden müssen.
Lukas weiß genau, welche Medikamente Marlena bekommt. Er hat den Beipackzettel vermutlich genauer gelesen als sie selbst. Er legt den Arm um seine beste Freundin. „Sag mir bitte, wenn ich irgendwas tun kann“, sagt er und schließt die Augen.
Marlena nickt an seiner Schulter. Wenn sie das nur wüsste.