21.

Zwei Tage später sitzt Marlena mit ausdruckslosem Gesicht im Büro von Irene Gottlob. Sie blickt aus dem Fenster. Die Worte ihrer Therapeutin fließen an ihr vorbei, wie Treibgut in einem reißenden Fluss. Sie hat keine Chance, irgendeines der Fragmente festzuhalten – sieht sie zerschellen am Fuße des Wasserfalls, vor dessen Abgrund sie solchen Respekt hat. „Frau Schuster, wir wussten schon seit langer Zeit, dass dieser Tag irgendwann kommen würde“, versucht Irene Gottlob erneut, zu ihr durchzudringen. „Sie haben Angst, das ist nur verständlich. Aber meinen Sie nicht, dass es auch positive Aspekte daran gibt, dass nun endlich ein Termin feststeht?“
Marlena blinzelt. Sie weiß genau, worauf ihre Therapeutin hinauswill; sieht, dass sie sich bemüht, sie zum Reden zu bringen. Doch das Problem ist – ihr ist einfach nicht danach zumute. Am liebsten würde sie einfach nach Hause fahren, sich in ihr Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und schlafen. Sie fühlt sich körperlich wahnsinnig müde; selbst der kurze Weg mit dem Auto in die Innenstadt hat ihr unendlich viel Kraft abverlangt. Alles scheint sinnlos. Was können Worte schon an dieser Situation ändern?
Längst sind ihr diese Gefühle vertraut; diese Lähmung, die Überforderung mit den kleinsten Dingen, die ihren Alltag bestimmen. Sie hat die Symptome oft erlebt, seit Zamir Nishliu vor einem Jahr ihren Weg gekreuzt hat. Und sie hasst sich dafür, dass er es schafft, sie noch heute so aus der Ruhe zu bringen – und sei es nur durch einen lächerlichen weißen Briefumschlag, wie der, der ihr heute Morgen ins Haus geflattert ist.
„Ladung“ hatte dick und fett in der Betreffzeile gestanden. Der Prozesstermin steht fest – und er ist in zwei Wochen.
Sie schaut auf. „Ich weiß nicht“, nuschelt sie. „Ich wünschte einfach, der Tag wäre längst rum.“ Noch leiser setzt sie nach: „Ich will das alles einfach nur vergessen.“
Irene Gottlob nickt. „Aber Frau Schuster, ich fürchte, Sie werden diesen Tag brauchen, um das alles abschließen zu können.“ Sie hält inne. „Was ist denn das Schlimmste, was passieren kann?“, fragt sie sanft.
Marlena zuckt die Achseln. Sie weiß es nicht. Das alles ist fürchterlich irrational, das ist ihr völlig bewusst. Und doch macht ihr das Zusammentreffen mit Nishliu eine Scheiß-Angst. Und die Zeit danach sogar noch viel mehr. „Was ist denn, wenn er verurteilt wird, und das alles trotzdem nicht weggeht?“, fragt sie. Es steht Panik in ihren Augen. „Was, wenn die Albträume bleiben, die Angst vorm Bahnfahren, die Angst vor Ausländern, die diesem Mann auch nur im Entferntesten ähnlich sehen?“ Sie schüttelt den Kopf, spürt, wie ihr lautlos Tränen über die Wangen laufen. „Was, wenn dieser Horror einfach weitergeht; wenn es völlig egal ist, ob dieser Typ im Knast sitzt oder nicht?“
Wortlos reicht ihr Irene Gottlob ein Taschentuch, gibt ihr die Zeit, sich wieder zu sammeln. „Sie sind doch schon so viel weiter als noch vor einem halben Jahr, Frau Schuster“, sagt sie ruhig. „Es gab Wochen, da haben Sie nicht eine einzige Nacht durchgeschlafen, weil die Albträume Sie immer wieder geweckt haben. Sie haben es noch nicht einmal allein in Ihrer Wohnung ausgehalten! Schauen Sie doch mal, wie viel Sie im Gegensatz dazu schon erreicht haben, seit wir uns treffen“. Sie lässt die Worte wirken.
Marlena nickt leicht. Und doch fühlt es sich mit jedem Rückschlag wieder aufs Neue so an wie am Anfang…
„Sie machen riesige Fortschritte. Aber Sie müssen lernen, sie sich auch zuzugestehen.“ Irene Gottlob lächelt. „Sie gehen einfach immer noch viel zu hart mit sich selbst ins Gericht. Sie wollen, dass alles von heute auf morgen vergessen ist und Ihr Körper Ihnen wieder gehorcht. Aber so ein Trauma braucht seine Zeit!“
Sie klopft sich auf die Schenkel und lächelt Marlena ermutigend zu. „Erinnern Sie sich noch an diese Übung, über die wir letztens mal sprachen? Den ‚Safe Place‘?“ Marlena nickt. „Den werden wir jetzt um eine weitere Übung erweitern, die Ihnen helfen soll, vor und während der Gerichtsverhandlung die Nerven zu behalten.“ Müde nickt Marlena. Alles, was Sie wollen, solange es hilft, denkt sie ergeben und setzt sich auf.