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Einige Stunden später schlägt Frank Baltes auf dem Parkplatz vor dem ‚Freifahrtschein’-Proberaum seine Autotür zu. „Simon! Wie schön“, begrüßt er den großen, unter einem dicken Schal vermummten Mann, der lässig gegen die Backsteinmauer des Proberaumkomplexes gelehnt auf ihn wartet.
„Du wirst sehen, die vier sind großartig“, ruft er bereits, als er noch gar nicht bei dem neuesten Keyboard-Anwärter angekommen ist und mit großen Schritten über den Schotterparkplatz eilt. Sein Grinsen wirkt festgetackert, nicht aufrichtig.

Simon Voigt erwidert sein Lächeln um einiges distanzierter. Typen wie Frank kennt er nur allzu gut, die Musikbranche wimmelt nur so von ihnen. Er fühlt sich in ihrer Gegenwart immer so, als würde ihm ein übereifriger Immobilienmakler eine völlig überteuerte Wohnung andrehen wollen. Eine, bei der sich der Schimmel durch die Wände frisst.
„Ich bin gespannt“, erwidert der Keyboarder lapidar und stößt sich von der Wand ab. Das ist er wirklich. Seit mehr als einem halben Jahr sucht er nach einer Band, in der er seine Ideen einbringen und sich verwirklichen kann. Als Aushilfsmusiker mit vielen verschiedenen Bands zu spielen macht Spaß, es fordert ihn und bringt vor allem Geld. Doch schon mit neunzehn Jahren war Simon von seinem Klavierlehrer gesagt worden, dass er seine Zeit verschwende, wenn er nur als Auftragsmusiker arbeite; damals hatte er gerade in einer ‚Bon Jovi‘-Coverband als Keyboarder angefangen. Fast fünfzehn Jahre hatte es bis zu der Einsicht gedauert, dass sein Mentor Recht hatte: Nur vom Blatt zu spielen reicht Simon schon lange nicht mehr. Er will Songs schreiben. Er will arrangieren. Er will Musik machen, nicht nur spielen. Egal, ob die Musikbiz-Maschinerie ihn dafür feiern wird oder nicht.
Frank öffnet die Tür zum Gebäude und lässt dem Musiker den Vortritt in den großen Proberaumkomplex. „Insgesamt residieren hier 16 Bands verschiedenster Richtungen. Die ‚Freifahrtscheine' haben den größten und letzten, ganz hinten durch.“ Verständnisvoll nickend hört Simon dem Manager mit halbem Ohr zu. Er hat schon in weitaus schöneren und in weitaus abgeranzteren Etablissements geprobt. Franks Nervosität ist geradezu nervtötend. Als er ihm letzte Woche im Proberaum seines Kumpels Mario vorgestellt wurde, war ihm das gar nicht so aufgefallen. Leise seufzt Simon. Das kann ja heiter werden.
Die Tür am Ende des Flurs öffnet sich. „...mach mir schon mal ein Bier auf, Alter, ich muss nur kurz telefonieren.“ Ein großgewachsener, dunkelblonder Typ in Karohemd und Ziegenbart kommt aus dem Raum. Franks Körper versteift sich, so groß ist seine Angst um den guten Ersteindruck. In Simons Augen wird der Manager immer lächerlicher. „Tilman, darf ich dir Simon Voigt vorstellen? Er spielt Keyboard“, erklärt er unnötigerweise. Als wäre das nicht völlig klar!
Tilman grinst vielsagend und hält Simon die Hand hin. „Hey, ich bin Tilman.“ Er zwinkert ihm zu. „Cool, dass du da bist. Ich bin der Drummer von ‚Freifahrtschein’.“
Er wendet sich an Frank. „Geht doch schon mal rein, Tobi und Luke sind auch schon da. Ich muss nur noch mal kurz vor die Tür, dann können wir schon mal ne Runde jammen.“
Auf Anhieb ist der Schlagzeuger Simon sympathisch. „Jo, gerne.“ antwortet er, während Frank fast hektische Flecken bekommt.
„Es ist schon kurz vor sechs, wo ist denn Marlena?“
Im Weglaufen ruft Tilman ihm hinterher. „Die hat ‘nen spontanen Arzttermin.“
Er dreht sich kurz um und wirft Frank einen bedeutsamen Blick zu. „Ist wichtig.“
Frank nickt unwirsch und schiebt Simon vor sich in den Proberaum. Natürlich hat er Tilmans Blick verstanden.

Aber Vereinbarung ist verdammt noch mal Vereinbarung, oder etwa nicht?