Sie traute ihren Ohren nicht. Hier stand sie nun, in ihrem lächerlichen Kellnerinnen-Kostüm, auf irgendeiner Hochzeits-feier vor rund 100 wildfremden Leuten und hörte diese Melodie. Ihre Melodie!
Gespielt von einem Pianisten, der in ein Pinguin-Kostüm gepresst als überteuerter Hochzeitsdienstleister alles spielen würde, wofür die Kasse nur laut genug klingelte, und an dem das einzig authentische vielleicht die eine Strähne war, die aus seinem spießig zusammengebundenen Zopf in sein Gesicht fiel.
Sie hatte Simon vertraut! Sie hatte ihm ihre Seele gezeigt, ihm das an die Hand gegeben, was direkt aus ihrem Herzen durch ihre Finger in dieses Instrument, auf dieses Notenblatt gefl ossen war. Und er verriet es für 300 Mäuse auf einer Hochzeitsfeier, die Marlena nicht egaler hätte sein können.
Noch dazu mit einem Text, den sie noch nie gehört hatte. Ohne es vorher mit ihr abzusprechen!
„Alles gut?“, fragte Frauke, eine weitere Kellnerin auf dieser Drecksveranstaltung, als sie ihr das Tablett mit den Sektgläsern abnahm. Irritiert warf Marlena ihr einen Blick zu, dann erst
realisierte sie, dass ihre Hände zu zittern begonnen hatten. „Willst du dich kurz hinsetzen? Du siehst gar nicht gut aus, Marlena!“ Frauke winkte sie mit dem Kopf heraus aus der Bastei, der
schnieken Veranstaltungsstätte, die sie heute zu bedienen hatten. „Ich krieg das hier schon ‘n paar Minuten alleine hin!“
Zerstreut nickte Marlena, legte ihre Schürze ab und trat ins Freie; nicht ohne vorher noch mitzubekommen, wie Simon ihre Klavierfigur im Zwischenspiel runterklimperte. Fehlerfrei, natürlich.
Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie ihm das Lied – ihr absolutes Lieblingslied, damals noch ohne Titel – zum ersten Mal vorgespielt hatte. Er hatte, wie so oft, lässig auf ihrer Couch gelegen und ihr über den Rand seiner ach so verhassten Lesebrille zugesehen, wie sie an ihrem Klavier saß und, noch zaghaft, diese Melodie spielte, die ihr eines Morgens beim Joggen plötzlich durch den Kopf geschossen war. „Hammer“, hatte er geurteilt, als sie sich zu ihm umgedreht hatte.
„Das gefällt mir von allen deinen Entwürfen bisher am besten! Erinnert mich total an so ‘ne leicht melancholische Sommer-Ballade. Da ist total viel Leichtigkeit drin, und trotzdem hört man dich förmlich nachdenken. Krasser Gegensatz, tolle Melodie – echt: Hammer!“ Marlena hatte gelacht. „Na toll. Leider ist das Ding mein größtes Sorgenkind!“
Sie hatte sich neben ihn gesetzt und ihnen beiden einen weiteren Schluck Wein eingeschenkt. „Die Melodie war sofort da, als hätt‘ meine Muse einfach ein Notenblatt durch irgendeinen Schlitz
in meinem Kopf geworfen. Nur ist die blöde Uschi danach scheinbar in den Urlaub gefahren – mit dem Text, versteht sich.“ Simon hatte sie angegrinst und ihr zugeprostet. „Vielleicht musste dich
einfach mal wieder so richtig verlieben, dann kommt so was von ganz allein!“
Sie war nicht darauf eingegangen, hatte nur in ihr Glas geschmunzelt. „Super. Hast du vielleicht noch mehr von diesen geistreichen Tipps auf Lager, du Idiot?“
Er hatte ihr versöhnlich einen Arm um die Schultern gelegt und gelacht. „Ach komm! So ist das nun mal mit uns Künstlern! Wir sind genau dann am kreativsten, wenn es uns am schlechtesten geht
– oder dann, wenn Amor mal wieder mit seiner Schützenarmee unterwegs ist.“
Dann war er ernst geworden. „Aber wenn das ernst gemeint ist – klar, warum nicht?! Gib mir deine Sachen mal mit, vielleicht hab‘ ich ja wirklich die ein oder andere Idee, die dir weiterhelfen
kann. Es wäre mir eine Ehre!“
Gott, sie hätte sich diesen Moment hier in der Bastei wirklich easy ersparen können!
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