9.

Draußen angekommen lief Marlena ein paar Meter die Zufahrt herunter, die neben dem Eingang der Event-Location hinunter zum Rhein führte. Tränen der Wut traten ihr in die Augen, als sie aus der Ferne den Applaus wahrnahm, den Simon für seine Darbietung bekam. Für IHRE Musik! Die er mitnichten als IHRE MUSIK anmoderiert hatte! Wie hatte sie sich nur so in ihm täuschen können? Wie hatte sie übersehen können, dass dieser unzuverlässige Klischee-Musiker, der begeistert auf jede Bühne sprang, die man ihm anbot – scheißegal ob als Rock-Keyboarder, als Werbejingle-Hure oder als mysteriöser Balladen-Sänger, der Mädchenherzen verzauberte – falsch bis auf die Knochen war? Gott, wie hatte sie ihn jemals in ihr Herz lassen können? Monatelang hatte sie ihn als guten Freund bezeichnet, als Menschen, der sie verstand, der die Dinge, die ihr wichtig waren, mit Respekt behandeln würde. Klar hatte sie gewusst, dass Simon nicht fehlerfrei war. Aber ein so schlechter Mensch? Das hätte sie ihm niemals, nie nie niemals zugetraut.
Marlena kannte das Musik-Business. Sie wusste, wie die Menschen arbeiteten, deren Wunsch es war, hauptberuflich darin zu überleben. Arbeiten mussten, wenn sie nicht in der Masse ihrer Konkurrenten untergehen wollten! Nur hatte sie bislang immer an so eine Art Ehrenkodex geglaubt, wenn es um das geistige Eigentum anderer ging. Schließlich tun wir das ja alle, weil wir die Musik lieben, oder etwa nicht? Wie kann man sie dann nur so dermaßen zur Ware verkommen lassen, wertlos und austauschbar, ohne auch nur einen Funken Seele?
Es dauerte keine fünf Minuten, da trat Simon neben sie in die Zufahrt zum Rhein. Schon vor seinem – IHREM – letzten Song hatte er seinem Publikum angedeutet, dass er eine kurze Pause machen würde. Marlena blickte ihn an. Sie wusste, dass all ihre Wut, all ihre Fassungslosigkeit und ja, sicherlich auch eine große Portion Schmerz aus ihren Augen sprachen; ähnlich wie schon beim letzten Mal, als sie sich begegnet waren. Sein Blick hingegen war emotionslos, seine Miene schwer zu deuten – und das war mehr, als Marlena in diesem Moment ertragen konnte.
„Was sollte DAS denn, Simon?“ Ihre Stimme klang aufgewühlt, viel zu unkontrolliert in ihren Ohren, was sie maßlos ärgerte, also sprach sie schnell weiter. Fragte ihn, wie er auf die Idee kommen konnte, ihre Songs zu klauen; sagte, wie maßlos enttäuscht sie war und wie sehr es sie traf, dass er sogar noch die Dreistigkeit besessen hatte, ihr Werk durch seinen Text zu verfälschen, ohne ihr auch nur die Chance zu geben, darauf zu reagieren. Immer lauter wurde ihre Stimme, immer hitziger ihre Wut.
Simon allerdings verstand offenbar gar nicht, was sie eigentlich wollte. Im Gegenteil, er schien sogar noch verärgert darüber, dass sie sich so aufregte. Als Marlena wenige Minuten später wutentbrannt und zutiefst verletzt zurück in die Bastei stapfte, lief nur eine einzige Erkenntnis wie ein Film in Dauerschleife immer wieder vor ihrem inneren Auge ab. Simon war für sie gestorben, und sie wollte ihn niemals wiedersehen! Und das war das Ende ihrer Freundschaft gewesen.